Ein Dornröschen in Deutschland, Kinderprostitution, Eltern verkaufen ihre Kinder. Ein modernes Märchen, Poesie. 105 Teil: Die blauen Blumen
Was konnte ich bestimmen, was konnte ich bewirken? Es folgten Tage voller Hoffen und Ungewissheit, Nächte, in denen ich kaum schlief. Den Tieren erging es nicht anders. Mein Schneehund jaulte die ganze Nacht leise vor sich hin, sein Futter rührte er kaum an. Das Huhn blieb verschwunden, aber es aß zumindest ein paar Würmer, wenn ich nicht in der Nähe war. Und auch die Fliege blieb unsichtbar. Wenn ich durch den Garten zum Stall ging, um mich um das Pferd zu kümmern, dessen Mähne fast weiß geworden war, betrachtete ich die blauen Blumen wie Feinde, die alles in Frage zu stellen schienen, was ich tat.
Als der dritte Tag anbrach, der Tag, an dem die blauen Blumen verschwunden sein sollten, traute ich mich nicht aufzustehen, als hätte ein Urteil über mich gefällt werden sollen. Der Garten war der Gerichtshof. Die blauen Blumen wurden in meiner Vorstellung zu Riesen, die auf mich herabschauten, Staatsanwälte und Richter in einem. Ihre Stimmen schwollen zu einem einzigen Donnern an: „Glaubst du wirklich, dass du bestimmen kannst, was geschieht? Wer bist du denn schon! Ein Wurm, ein Nichts. Wenn wir nicht wollen, dass hier Rosen blühen, werden sie nicht blühen. Alles, was du getan hast, war umsonst. Wenn wir wollen, dass du für immer von einer Hecke umgeben bist, die deinen Garten in ein Gefängnis verwandelt, dann wird das geschehen. Wen willst du um Hilfe bitten? Wer wird für dich stehen? Wer wird dein Zeuge sein? Du begreifst gar nicht, wie mächtig wir sind. Wir können einen Duft verbreiten, der giftig ist, der alles töten kann, was in deinem Sonnenhaus lebt, auch dich. Du willst nicht erkennen, dass unser Blau gleich dem Himmel ist? Du willst uns keinen Respekt entgegenbringen? Merkst du nicht, dass du deinen eigenen Tod herbeirufst? Du willst bestimmen? Du!“
Zum 106. Brief: Angstblumen
Link: Blaue Blume